Rituale gehören zum Leben. Sie geben uns Ordnung und Sicherheit. Bei Kindern gehören Rituale zu der ganz normalen psychischen Entwicklung. Wenn sie uns aber einschränken und im Alltag zunehmend belasten, können aus Ritualen auch Marotten oder eben Zwangserkrankungen werden. Die Erkenntnis nicht mehr frei handeln zu können sind ernste Anzeichen und bedürfen einer Abklärung. Von der Zwangserkrankung (früher Zwangsneurose) sind 2 bis 3 % der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens betroffen. Damit handelt es sich um die vierthäufigste psychische Störung. Die Zwangsstörung ist eine psychische Erkrankung, die Männer und Frauen etwa gleich häufig betrifft. Der Beginn der Erkrankung liegt meistens in der Kindheit oder im jungen Erwachsenenalter, ist aber grundsätzlich in jedem Alter möglich. Die Mehrzahl der Zwangsstörungen nimmt unbehandelt einen chronischen Verlauf. Zu einer Zwangsstörung gehören in der Regel Zwangsgedanken und Zwangshandlungen.
Nach jahrelanger Erkrankung sind die Zwänge manchmal so stark Teil des Lebens geworden, dass das Gefühl für die Sinnlosigkeit verloren gehen kann. Die Betroffenen leiden an den Zwängen und an deren Folgen und schämen sich nicht selten für die Zwänge. Es besteht daher eine Verheimlichungstendenz, weswegen auch die Bezeichnung „die heimliche Krankheit“ gebräuchlich ist.
Wer hat sich zum Beispiel nach dem Verlassen der Wohnung nicht schon einmal gefragt, ob der Herd oder das Licht ausgeschaltet ist und ist wie unter Zwang zurückgekehrt, um den Schalter zu kontrollieren? Solche Zwänge kennt praktisch jeder. Bei einer Zwangsstörung beeinträchtigen die Zwangserscheinungen jedoch typischerweise den gesamten Tagesablauf. Geben die Betroffenen dem Zwang nicht nach, empfinden sie meist eine unerträgliche Anspannung.
Eine wirkliche Zwangserkrankung liegt dann vor, wenn wiederkehrende Gedanken und Rituale aufgrund ihrer Ausprägung zu Einschränkungen im alltäglichen, beruflichen und sozialen Leben führen und der Betroffene darunter leidet. Ein weiteres Kriterium ist der Verlust der Flexibilität, auch anders handeln zu können.
Bei etwa 75% der Betroffenen stehen Handlungszwänge im Vordergrund, wobei in etwa 70% der Fälle die Handlungszwänge mit einer ausgeprägten kognitiven Komponente einhergehen. Durchschnittlich beschäftigen sich Betroffene etwa 7 - 8 Stunden am Tag mit den Zwängen, was zu einer deutlichen Beeinträchtigung der Lebensqualität führt. Die Betroffenen erleben die Zwangsgedanken meist als quälend, sinnlos, inakzeptabel oder beschämend. Sie versuchen meist erfolglos, Widerstand zu leisten oder die Gedanken zu unterdrücken. Zwangsgedanken können durch bestimmte Situationen ausgelöst werden oder spontan auftreten.
Unter Zwangsgedanken werden Gedanken, Vorstellungen oder Impulse verstanden, die sich dem Betroffenen gegen seinen Willen aufdrängen und ihn übermäßig beschäftigen. Sie können alltäglichen Gedanken und Befürchtungen ähneln, haben jedoch eine intensivere Qualität. Oftmals handelt es sich um bizarre, rational schwer nachvollziehbare Gedanken.
Typische Zwangsgedanken sind:
Zwangshandlungen sind ursprünglich zweckgerichtete Handlungsweisen wie etwa das Händewaschen, die in ritualisierter Form einförmig wiederholt werden. Sie werden weder als angenehm empfunden, noch dienen sie dazu eine sinnvolle Aufgabe zu erfüllen. Die Betroffenen setzen sie ein, um kurzfristig eine innere Anspannung zu reduzieren, einen vermeintlichen Schaden wiedergutzumachen oder ein Unheil in der Zukunft zu verhindern.
Gleichzeitig sind die Zwangshandlungen mit deutlichen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit und des sozialen Lebens verbunden, weswegen sie von den Betroffenen zum einen häufig verheimlicht und zum anderen gegen einen inneren Widerstand ausgeführt werden. Trotz der meist zumindest teilweise bestehenden Einsicht in die Unsinnigkeit der Handlungen, können die Zwangshandlungen von den Patienten oft kaum unterlassen werden. Kann die Zwangshandlung nicht sofort ausgeführt werden, führt dies zu einem schwer aushaltbaren Anstieg von Anspannung und Angst, so dass die Handlung meist zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt wird.
Beispiele von Zwangshandlungen:
Das Zwangsverhalten ist oft an bestimmte Situationen gebunden und kann in einem anderen Kontext überhaupt keine Rolle spielen. Wie zum Beispiel das Ausbleiben von Putzzwängen an einem Ort, für den man sich nicht verantwortlich fühlt. Eine Sonderform der Zwangshandlungen stellt die zwanghafte Langsamkeit dar. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass alltägliche Handlungen (z.B. Anziehen, Frühstücken, Gehen) extrem langsam und bedächtig durchgeführt werden. Dabei sind die Verzögerungen nicht das Resultat eines speziellen Zwangs, sondern entstehen dadurch, dass das Ausführen von Alltagshandlungen selbst extrem viel Zeit in Anspruch nimmt.
Die meisten psychischen Erkrankungen werden bzgl. ihrer Ursachen heute im Rahmen des sogenannten Bio-Psycho-Sozialen Modells betrachtet. Das bedeutet, dass die Entstehung psychischer Erkrankungen sowohl durch biologische, z.B. genetische, als auch psychische und soziale Faktoren beeinflusst wird.
Untersuchungen zufolge treten Angst - und Zwangsstörungen in einer Familie oft gehäuft auf. Die genaue Ursache hierfür ist allerdings noch unklar. Familiäre Schwierigkeiten, wie etwa der Tod eines Familienangehörigen oder die Trennung der Eltern, sind für Kinder häufig mit Angst und Unsicherheit verbunden und können unter Umständen ebenfalls als Auslöser für eine Zwangsstörung fungieren.
Es sind auch bestimmte Botenstoffe im Gehirn, nach derzeitigem Erkenntnisstand vor allem Serotonin und Dopamin, an der Ausbildung von Zwängen beteiligt. Verschiedene genetische Varianten stehen im Verdacht, zur Entstehung von Zwängen beizutragen. Auch treten Zwänge teilweise familiär gehäuft auf, das heißt, dass es Familien gibt, in denen mehrere Familienmitgliedern Zwänge haben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine entsprechende genetische Ausstattung unbedingt zur Entstehung von Zwängen bzw. einer Zwangserkrankung führt. Weitere Faktoren müssen hinzukommen, damit Zwänge entstehen und bleiben.
Dies können sowohl andere biologische Faktoren wie z.B. eine Infektion als auch psychosoziale Faktoren wie belastende Lebensereignisse sein. Im Rahmen des sogenannten kognitiven Modells (Hinterfragung der Denkmuster) der Zwangsstörung wird zunächst einmal davon ausgegangen, dass die sich aufdrängenden unsinnigen, unangenehmen und oft auch peinlichen Gedanken zunächst einmal nicht krankhaft sind, sondern zumindest immer wieder mal bei den meisten Menschen auftreten.
Menschen, die an einer Zwangserkrankung leiden, bewerten demnach diese Gedanken jedoch anders. Dies bedeutet, dass die Betroffenen stärker als andere, angesichts ihrer Gedanken, Schuldgefühle und Ängste, ein zwanghaftes Verhalten entwickeln. Wenn dann auch noch die vorübergehende Entlastung durch eine Zwangshandlung erfolgt, kommt es im Rahmen dieses psychologischen Erklärungsmodells zu einer sogenannten negativen Verstärkung.
Dies führt dazu, dass in Zukunft Zwangshandlungen eben wegen ihres vorübergehend entlastenden Charakters mit größerer Wahrscheinlichkeit auftreten. Dieser Mechanismus ist von großer Bedeutung in der Verhaltenstherapie. Bei der Diagnosestellung muss auch berücksichtigt werden, ob die Zwänge Begleiterscheinungen einer anderen psychischen Erkrankung sind, z.B. einer Psychose oder einer schweren Depression.
Soziale Faktoren, die die Aufrechterhaltung von Zwängen beeinflussen, existieren ebenfalls. Sie sind naturgemäß eng mit den psychischen Faktoren verknüpft. So kann sich beispielsweise das Verhalten von Angehörigen ebenfalls auf die Ausprägung von Zwängen auswirken.
Zwänge können das Leben der Betroffenen sowie Angehörigen, Freunde und Kollegen stark beeinträchtigen. Die Angehörige von Patienten mit Zwangserkrankungen sind meist am stärksten belastet. Oft sind sie beispielsweise in die Rituale integriert, etwa indem der Patient seine Verantwortung für eventuell mögliche Katastrophen abgibt. So müssen sie etwa überprüfen, dass die Haustüre tatsächlich abgeschlossen wurde, oder dürfen im Haushalt bestimmte Gegenstände nicht berühren oder sie müssen diese nach Berührung säubern.
Grundsätzlich sollten Angehörige sich bewusstmachen, dass der Patient seine Zwänge nicht aus eigener Kraft überwinden kann. Appelle wie „stell’ dich nicht so an“ und „was soll das nun wieder“ bringen deshalb gar nichts und lösen beim Patienten nur zusätzliche negative Gefühle aus.
Sie sollten stattdessen klarmachen, dass bei dieser Symptomatik professionelle Hilfe nötig ist. Auf keinen Fall sollten Angehörige ihren Alltag von den Zwängen bestimmen lassen und das eigene Leben aufgeben. Wenn negative Gefühle bei Ihnen allerdings Überhand nehmen, ist es vielleicht sogar angebracht, als Angehöriger selbst therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Psychotherapie Hypnosetherapie Therapieverfahren
Ein Betroffener, bei dem erstmals Zwangssymptome auftreten, sollte möglichst bald eine Therapie aufsuchen. Denn zu Beginn der Erkrankung sind die Symptome noch nicht so stark ausgeprägt und verfestigt, so dass die Erfolgschancen einer Therapie am besten sind.
Gute Erfahrungen wurden bei Behandlung von Zwangsstörungen mit der Hypnosetherapie gemacht. Eine hypnotherapeutische Behandlung ist auf die den Zwangsgedanken und Zwangshandlungen zu Grunde liegenden Ursachen ausgerichtet. Es geht also um das Erkennen und Loslassen von eigenen und fremden, hinderlichen, krankmachenden Glaubenssätzen, Programmen und Überzeugungen. Mit Hilfe der Hypnosetherapie wird der Betroffenen dabei unterstützt, sich seiner unbewussten negativen Gedanken oder Gefühlen gewahr zu werden und alternative Lösungswege zu entwickeln. So bleibt der Patient auch in schwierigen Situationen handlungsfähig.
Die Kognitive Therapie konzentriert sich auf die Hinterfragung der Denkmuster (Kognitionen). Belastende Gedanken und Vorstellungen sollen aufgespürt und verändert werden: „Muss ich denn immer wieder kontrollieren ob der Herd ausgeschaltet ist und was passiert, wenn ich es nicht tue?“
Die Verhaltenstherapie legt den Schwerpunkt auf das Erlernen von Handlungsalternativen die helfen, den Alltag weniger einschränkend zu erleben. Häufig wird das Verfahren der Reizkonfrontation eingesetzt. Der Betroffene lernt, nicht auf den zwangsauslösenden Reiz zu reagieren (Reaktionsverhinderung) und erlebt, dass dadurch entstehende Angst und Unruhe wieder abklingen.
Insgesamt profitieren die meisten Patienten deutlich von einer geeigneten Therapie. Es ist aber bekannt, dass die Zwangssymptome durch eine Therapie nicht immer vollständig verschwinden. Im Lauf einer Psychotherapie lernen die Patienten jedoch, mit den verbleibenden Zwangssymptomen besser umzugehen. So berichten viele Patienten, dass sie nach der Therapie den Zwangsimpulsen besser widerstehen konnten, auch in Stresssituationen. Bei sehr ausgeprägten Zwangsstörungen haben verschiedene Studien gezeigt, dass eine Kombination aus Psychotherapie und einem Medikament, meist ein Antidepressivum, eine wirksame Therapiemethode ist.